KINDgerecht Magazin für frühkindliche Bildung, Ausgabe 2 / November 2022 - Magazin - Seite 37
ersten Untersuchungen bis U7a die Bildschirmfreiheit. Danach reden wir dann
über die Bildschirmerfahrungen. Bei der
U11 mit elf bis zwölf Jahren sehen wir zum
Beispiel häufig schon Kinder, die mehrere
Stunden pro Tag vor Bildschirmen ver
bringen.
Welche Risiken sehen Sie grundsätzlich für Kinder und Jugendliche in
Bezug auf die Nutzung von digitalen
Medien?
Wir sehen häufig Kinder, die über zehn
Stunden am Tag Medien nutzen – und
zwar unabhängig von Schule oder Lernen. Meist werden Videos konsumiert
oder exzessiv Spiele gespielt. Dies führt
nicht selten zu einer sozialen Vereinsamung, zu Schlafstörungen, Lernschwächen etc. Man kann nachweisen, dass
ein übermäßiger Medienkonsum zu
schlechteren Schulnoten mit all seinen
Folgen führt.
Ich habe für dieses Magazin die
Forschungslandschaft nach belastbaren Studien abgesucht, die
Zusammenhänge zwischen erhöhter
Bildschirmzeit und gesundheitlichen
Folgen darstellen (s. S. 7). Dabei ist
aufgefallen, dass die Datenlage
zumindest für Deutschland zu
diesem Thema noch sehr dürftig ist.
Die kürzlich erschienene BLIKKStudie untermauert Ihre Aussage,
allerdings wird dort darauf hingewiesen, dass existierende Studien
noch keine wirklichen UrsacheWirkungszusammenhänge möglich
machen. Basieren die Empfehlungen, bspw. der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung, die
auch Bildschirmfreiheit unter drei
Jahren fordert, auf dem gesammelten Erfahrungsschatz der Kinderund Jugendärzte?
Natürlich kann man aus einer Studie
noch keine hundertprozentigen Rückschlüsse führen, jedoch zeigt die Erfahrung, dass es bei exzessivem Medienkonsum häufiger zu schlechten Noten, zum
Schulabbruch etc. kommt. Man kann
aber eben noch nicht benennen, in
welche Richtung der Zusammenhang
wirksam ist. Also führt vermehrtes Spielen
zum Schulabbruch oder die Disposition
zum Schulabbruch auch zu vermehrtem
Spielen.
Neben Kita und Schule spielt natürlich auch die Familie eine bedeutende Rolle. Werden Chancenungleich-
heiten aufgrund von unterschied
lichen Bildungshintergründen und
Ressourcen der Eltern mit zunehmender Digitalisierung noch verschärft?
Wie könnte ein möglicher „Digitalpakt Kita“ da entgegenwirken?
Zunächst mal muss Familie natürlich Vorbild sein. Nicht selten sind Eltern genauso
lange an Medien wie ihre Kinder. Natürlich kommt es zu Chancenungleichheiten. Mit weniger gut ausgeprägtem Bildungshintergrund fällt das Begrenzen
von Bildschirmzeit noch schwerer, da des
für Eltern zunehmend herausfordernd ist,
ihre Kinder ohne Medien zu beschäftigen. Ein Digitalpakt Kita könnte in dem
Sinne helfen, dass Eltern die Gefahren
von übermäßigem Medienkonsum verstehen und im täglichen Leben mit den
Kindern einen guten Umgang erlernen.
Dann sind wir ja doch auf einer
Welle, Herr Maske. So sehen wir das
auch.
Freut mich!
Ein solches politisches Vorhaben
basiert auf der Annahme, dass der
Einsatz von Medien in der Kita die
Sprachentwicklung der Kinder positiv
beeinflussen kann. Gehen Sie bei
dieser Aussage mit?
Sprachförderung ist bei aktiver Kommunikation erfolgversprechend, passive
Kommunikation, die bei bloßem Medienkonsum stattfindet, ist kaum förderlich für
die Sprachentwicklung. Das heißt natürlich nicht, dass gezielt eingesetzte Medien nicht auch Sinn machen können.
Es geht ja vor allem auch darum,
Kindern und Jugendlichen einen
kontrollierten Medienumgang mit
kognitivem und emotionalem
Verständnis und eine Erweiterung der
bereits vorhandenen Medienkenntnisse von früh an beizubringen. Das
kling theoretisch sehr schön. Funktioniert das in der Praxis?
Ein häufiger Berufswunsch unserer Patienten zum Zeitpunkt der J1, also ca. in
der achten oder neunten Klasse ist, Programmierer zu werden. Wenn ich dann
frage, ob denn schon Erfahrungen mit
dem Schreiben von Programmen oder
mit Computersprachen vorhanden sind,
höre ich in der Regel: „Nein, aber ich
kann super spielen und bin schon im
höchsten Level.“
Und gerade aus dieser Diskrepanz
heraus sehen wir für unsere Kitas
einen Bildungsauftrag, nämlich den
bewussten Umgang mit Medien von
früh an vorzuleben und durch
gezielten Einsatz zu vermeiden, dass
Kinder mit digitalen Medien nur
Konsum von Spielen verbinden. Ich
wollte zum Schluss nochmal auf die
Pandemie zu sprechen kommen, Herr
Maske, die die Bildschirmzeit für Kinder
und Jugendliche ja aus unterschied
lichen Gründen erhöht hat …
Ja, während der Pandemie gab es eine
Zeit des Online-Unterrichtes zu Hause. Ein
Großteil der Schülerinnen und Schüler
hat zur Kommunikation mit anderen aus
der Klasse ein weiteres Gerät genutzt. Eltern hatten häufig keinerlei Kontrolle
mehr über die Bildschirmnutzung und
mussten sich fragen: War das jetzt für die
Schule oder wurde einfach Youtube geguckt?
Kontrollierter Medienumgang muss
tatsächlich frühzeitig erlernt werden, hier
müssen Eltern und Lerneinrichtungen in
ein Boot geholt, Regeln aufgestellt und
kontrolliert werden. Unsere Vorsorgen behandeln schon lange das Thema Medienkompetenz, die wir mit Eltern besprechen, jedoch ist dies nur ein Tropfen auf
den heißen Stein. Medienkompetenz
muss jeden Tag Thema sein und jeden
Tag gelebt werden.
Jakob Maske ist Bundespressesprecher des
Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e. V.
(BVKJ). Der BVKJ ist die berufliche Interessen
vertretung der Kinder- und Jugendärzte in
Deutschland. Jakob Maske ist praktizierender
Kinder- und Jugendarzt in Berlin-Schöneberg.
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