KINDgerecht - Magazin für frühkindliche Bildung, Fachkarriere im Bereich Sprachbildung, Teil 2 - KINDgerecht Magazin für frühkindliche Bildung, Ausgabe 1, März 2022 - Magazin - Seite 21
KINDgerecht - Magazin für frühkindliche Bildung, Fachkarriere im Bereich Sprachbildung, Teil 2
Erste Anzeichen für eine auffällige Sprachentwicklung
erkennen
Dieser Prozess beginnt mit der Formulierung von Vermutungen, sogenannten Hypothesen, die dann in weiteren Schritten vertiefend überprüft werden. Dafür sind in der Regel neben
strukturierten Gesprächen mit Sorgeberechtigten und systematischen Beobachtungen, wie sie bestenfalls in der Kita erfolgen, auch die Anwendung spezifischer psychologischer oder
linguistischer Testverfahren nötig.
Um mögliche Verzögerungen, Beeinträchtigungen oder auch
Störungen in der kindlichen Sprachentwicklung sicher feststellen zu können, sind mehrere Schritte in einem sogenannten diagnostischen Prozess notwendig.
Eine wichtige Informationsquelle für eine erste Einschätzung ist eine systematische Beobachtung der Kinder in alltäglichen Spiel- und Interaktionssituationen. Hierfür werden häufig
Screening-Verfahren verwendet, die eine schnelle Orientierung auf der Basis kritischer Meilensteine ermöglichen, aber nur
nach einer „auffälligen“ oder „unauffälligen“ Entwicklung unterscheiden. Sie liefern noch keine genaueren Hinweise mit
Blick auf die weitere Unterstützung der Kinder.
Einen Schritt weiter im diagnostischen Prozess gehen differenziertere Beobachtungsverfahren, zu denen beispielsweise
BaSiK, Sismik oder Seldak zählen. Diese detailliertere Beobachtung sollte bestenfalls durch die pädagogischen Fachkräfte in
Kindertageseinrichtungen erfolgen und sich an Beobachtungsverfahren orientieren, die eine hohe Güte im Sinne wissenschaftlicher Kriterien aufweisen (vgl.
„Was zeichnet ein gutes BeobachtungsGerade weil die
verfahren aus“).
Durch die tägliche Arbeit mit vielen
Kindern über einen längeren Zeitraum entwickeln pädagogische Fachkräfte häufig
einen guten Blick für mögliche Entwicklungsherausforderungen einzelner Kinder.
3. Es unterstützt eine möglichst gültige
Beobachtung, das heißt, es hilft dabei
auch tatsächlich den Sprachstand oder
einzelne Merkmale der kindlichen
Sprachentwicklung einzuschätzen. Fehlt
diese sogenannte Validität, weil beispielsweise hohe soziale Fähigkeiten
oder eine gut entwickelte Motorik in den
Beobachtungssituationen vorausgesetzt
werden, macht man am Ende gar keine
Aussage über die Sprachentwicklung und kommt zu falschen
Schlussfolgerungen.
Sprachent
wicklung ein sehr dynamischer
Prozess ist und auch viele
spätsprechenden Kinder bis
zum Schuleintritt Verzögerun
gen aufholen, sind mehrmalige
Beobachtungen wichtig.
Es ist aber unbedingt nötig, diesen
subjektiven Eindruck, der auch Beobachtungs- oder Beurteilungsfehlern unterliegen kann, mit einem objektiveren Maßstab abzugleichen. Genau dazu dienen strukturierte Verfahren, die zusätzlich einen Vergleich der eigenen Beobachtungen mit weiteren Beobachtungsdaten, sogenannte Normen,
ermöglichen. Erst diese erlauben eine Aussage darüber, ob
eine Entwicklung noch normal verläuft oder schon verlässliche
Anzeichen auf eine Abweichung existieren.
Dabei ist es immer wichtig, sich die mögliche Ungenauigkeit der eigenen Beobachtung bewusst zu machen, um nicht
vorschnell der Versuchung zu erliegen, jetzt mit einem objektiven Messwert ausgestattet, direkt eine sichere Bewertung vornehmen zu können. Gerade weil die Sprachentwicklung ein
sehr dynamischer Prozess ist und auch viele spätsprechenden
Kinder bis zum Schuleintritt Verzögerungen aufholen, sind mehrmalige Beobachtungen wichtig.
Exkurs: Was zeichnet ein gutes Beobachtungsverfahren aus?
1. Es unterstützt eine möglichst objektive Beobachtung, d. h. es
sollte für das Ergebnis keine Rolle spielen, wer das Kind beobachtet. Das wird durch klare Beschreibungen erleichtert, worauf bei der Beobachtung zu achten ist, wie die konkrete Beobachtungssituation gestaltet sein sollte oder welche Rolle die Tagesform des Kindes spielt. Um diesen Aspekt zu vertiefen, sind
Schulungen in Beobachtungsverfahren besonders wichtig.
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2. Es unterstützt eine möglichst zuverlässige Beobachtung, d. h.
es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass eine weitere Beobachtung zum selben Ergebnis führen würde oder alle Beobachtungen z. B. zum Wortschatz oder zum Sprachverständnis in
sich konsistent sind und in dieselbe Richtung weisen. Fehlt dieses Kriterium der sogenannten Reliabilität, ist eine Beobachtung nur ein Zufallswert und keine verlässliche Aussage über
den tatsächlichen Entwicklungsstand.
4. Ein gutes Beobachtungsverfahren gibt aktuelle Vergleichsdaten, die einen Rückschluss über die normale Entwicklung
von Kindern derselben Altersgruppe, desselben Geschlechts
und mit Ein- oder Mehrspracherwerb zulassen. Diese sollten
nicht älter als maximal zehn Jahre sein.
5. Es ist im Alltag praktisch anwendbar und ökonomisch hinsichtlich des Aufwands für die Beobachtung, Auswertung und
daraus folgende Maßnahmenplanung.
Sind Sprachstandsbeobachtung und Sprachdiagnostik ein
und dasselbe?
Die Beobachtung durch pädagogische Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung alleine würde keinesfalls genügen, um
eine Diagnose zu stellen – sie ist aber ein wichtiger Stein in einem größeren Mosaik. Eine Diagnose umfasst nicht nur die Frage nach dem aktuellen Sprachstand, sondern auch eine fundierte Erklärung der Ursachen für eine Abweichung und einen
realistischen Ausblick auf die weitere Entwicklung (siehe Definition S. 41) und steht am Ende eines im Grunde individuellen Forschungsprozesses für das je einzelne Kind.
Auch weitere, teilweise medizinische Untersuchungen gehören dazu, denn es gilt auch mögliche Ursachen für eine beeinträchtigte Sprachentwicklung auszuschließen. Das kann
zum Beispiel ein vermindertes Hörvermögen sein, oder auch
ein Zusammenhang mit einer weiteren geistigen oder kommunikativen Beeinträchtigung des Kindes. Diese zusätzlichen
Schritte, vor allem die Anwendung von Testverfahren, sind
nicht Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen und erfordern spezifische Kompetenzen.
Referenzen
Renate/Wurst, Elisabeth (2003): Entwicklungsdiagnostik.
In: Kubinger, Klaus D./Jäger, Reinhold S. (Hrsg.): Schlüsselbegriffe der Psychologischen Diagnostik. Weinheim: Beltz.
S. 119–123
Koglin, Ute/Hallmann, Andrea/Petermann, Franz (2011):
Entwicklungsdiagnostische Verfahren für die Arbeit mit
Kindern in den ersten drei Lebensjahren.
https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/
Publikationen/KiTaFT_KoglHallPeterm_2011.pdf.
(14.01.2022)
Entwicklungsdiagnostik – eine Definition
„Entwicklungsdiagnostik beschäftigt sich mit der wissenschaftlich fundierten Einschätzung motorischen, kognitiv-sprachlichen, emotionalen und sozialen Verhaltens von Kindern anhand weitgehend standardisierter Verfahren. Die Besonderheit
der Entwicklungsdiagnostik besteht darin, den aktuellen Entwicklungsstand eines Kindes innerhalb des altersabhängig verlaufenden Entwicklungsprozesses festzustellen“ (Fuiko/Wurst
2003, S. 119).
„Der Begriff ‚Entwicklungsdiagnostik‘ bezieht sich auf die
Darstellung und Bewertung von Entwicklungsverläufen, die Beschreibung von Entwicklungspotentialen und die Formulierung
von Entwicklungsprognosen. Die Erhebung eines Entwicklungsstandes verdeutlicht Defizite, Ressourcen und entsprechende
Abweichungen im Entwicklungsverlauf. Die Durchführung einer Entwicklungsdiagnostik sowie die angemessene Interpretation und Einordnung der Ergebnisse erfordert ein fundiertes
Fachwissen und sollte nur von diagnostisch geschulten Personen wie Kinderärzten und Kinderpsychologen durchgeführt
werden.“ (Koglin/Hallmann/Petermann 2011, S. 3)
Die systematische Sprachstandsbeobachtung in Kindertageseinrichtungen liefert also ganz entscheidende Hinweise
darauf, ob eine weiterführende Sprachdiagnostik überhaupt
erforderlich sein könnte und ist darum eine unverzichtbare
Stellschraube, um das Kind und seine Familie frühzeitig hinsichtlich weiterführender Unterstützung zu beraten.
Zusätzlich liefert sie – im Gegensatz zu Screeningverfahren
– wichtige Hinweise auf die individuelle, alltagsintegrierte Förderung der Sprache, die immer parallel auch in der Kindertageseinrichtung erfolgen sollte (vgl. Artikel S. 24–26 in diesem
Heft).
Die Autorin
Valeska Pannier ist Psychologin und leitet das Programm AUF!leben
bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Bis März 2022 leitete
sie die Abteilung Pädagogik und Qualitätsentwicklung bei FRÖBEL.
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