Magazin KINDgerecht Ausgabe 1-2023, Juli: „Piep, piep, piep, guten Appetit.” Mahlzeiten und Ernährung als nachhaltiges Bildungsmoment in Kitas - Magazin - Seite 8
Recht auf Bildung
Mahlzeiten unter die Lupe nehmen
Am Tisch wird nicht geredet? Doch unbedingt! Das Recht auf
Bildung (Art. 28 UN-KRK) ist ein weiteres Kinderrecht, das in Essenssituationen zum Tragen kommt. Mahlzeiten können wunderbare Erfahrungs- und Austauschmomente sein, wenn sie
entsprechend gestaltet werden und ihr Bildungspotenzial erkannt und vor allem genutzt wird.
Mahlzeiten sind wichtige Zeiten der Gemeinschaft und des sozialen Miteinanders: Am Tisch werden sich die spannendsten
Geschichten erzählt, man erfährt viel voneinander und kann
von Erlebnissen, Wünschen und Träumen berichten. Beim Essen kann also ganz nebenbei und alltagsintegriert die Sprachentwicklung gefördert werden.
Aber auch abseits der Essenssituation am Tisch bieten sich viele Möglichkeiten, um mit den Kindern auf Entdeckungsreise zu
gehen und Antworten auf vielfältige Fragen zu suchen: Wo
kommt unser Essen her? Was ist da eigentlich drin? Was ist gesund, was nicht und warum? Was ist nachhaltig? Wie funktioniert ein Rezept (Mengen messen und wiegen)? Wie essen die
verschiedenen Familien zu Hause? Wie und was wird in anderen Teilen der Welt gegessen? Was ist saisonales Obst und Gemüse? Gehen Sie mit den Kindern an verschiedenen Orten
einkaufen – im Supermarkt, auf dem Wochenmarkt – und
bauen Sie nach Möglichkeit selbst Obst, Gemüse oder auch
Kräuter an. Gehen Sie mit den Kindern auf Sinnesreise und fördern Sie so ihre Wahrnehmung: Wie schmeckt etwas mit verbunden Augen? Wie riecht das Essen? Wie fühlt es sich an?
Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt.
Mahlzeiten und Kinderrechte gehören untrennbar zusammen
– wobei die in diesem Beitrag vorgestellten Rechte nur einige
Beispiele sind. Essenssituationen bieten viel Bildungs- und
Selbstbestimmungspotenzial, wenn sie kindesorientiert gestaltet werden. Sie bergen aber ebenso das Risiko von Grenzüberschreitungen und ihnen sollten daher besondere Aufmerksamkeit und viel Reflexion geschenkt werden.
Folgende Fragen können hilfreich sein, um Mahlzeiten
noch kindesorientiert zu gestalten:
• Entspricht der Speiseplan den Standards der DGE?
Recht auf Gewaltfreiheit
„Es wird wenigstens gekostet!“ Auch wenn meist keine böse
Absicht hinter dieser Forderung steht, wird damit Druck auf
Kinder ausgeübt, etwas zu essen, das sie nicht möchten. Diese Ausübung von Druck ist bereits eine Form von verbaler und
psychischer Gewalt. Laut Artikel 19 UN-KRK haben Kinder das
Recht, „…vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung …“ geschützt zu werden.
Das bedeutet, Kinder dürfen beim Essen:
• Können die Kinder den Speiseplan mitgestalten und
finden ihre Wünsche Berücksichtigung?
• Entscheiden die Kinder selbst, ob und wann sie essen?
• Dürfen die Kinder entscheiden, wo und neben wem sie
sitzen?
• nicht gezwungen werden, etwas zu probieren oder
aufzuessen, wenn sie satt sind
• Werden die Kinder beim Decken und Abräumen des
Tisches beteiligt?
• nicht am Stuhl fixiert werden
• Wird ihnen Besteck und Geschirr bereitgestellt, die sie in
ihrer Selbstständigkeit unterstützen?
• nicht zum Essen oder Trinken gedrängt werden, wenn
sie nicht hungrig oder durstig sind
• nicht zum schnelleren Essen oder Trinken angehalten
werden, weil die Zeit drängt
• nicht zum Sitzenbleiben gezwungen werden, wenn sie
auf die Toilette müssen oder aufstehen wollen, weil sie
fertig sind.
Vor allem bei sehr jungen Kindern passen ihr Autonomiebedürfnis und ihre tatsächliche Selbstständigkeit manchmal
noch nicht ganz zusammen. Sie benötigen oft etwas mehr Unterstützung, als ihnen lieb ist. Wenn Erwachsene den Kindern
zu Hilfe kommen möchten, kann es bei diesen sogenannten
Assistenzhandlungen zu Grenzverletzungen kommen – vor allem dann, wenn sie beispielsweise ohne Ausfforderung durch
die Kinder sowie von hinten erfolgen und zudem die Handlungen nicht verbal begleitet werden.
In solchen Situationen lässt es sich meist nicht verhindern, dass
das Kind davon auf unangenehme Weise überrascht und
überfordert wird. Zu diesen Assistenzhandlungen zählen unter
anderem das Abwischen des Gesichts, das Ärmel hochschieben, das an den Tisch heranschieben oder das Lätzchen umbinden. Mit solchen unterstützenden körperlichen Maßnahmen sollte besonders sensibel umgegangen werden, damit
das Kind auch tatsächlich in seiner Autonomie gestärkt wird.
Das Kind sollte in jedem Fall gefragt werden und die Möglichkeit bekommen „nein“ zu sagen.
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• Ist die Atmosphäre während des Essens entspannt und
harmonisch?
• Können sich die Kinder ihr Essen und die Getränke selbst
auftun und eingießen?
• Werden die Kinder darüber informiert, wo ihr Essen
herkommt?
• Gibt es gemeinsame Angebote und Projekte rund um
die Themen Mahlzeiten und Ernährung, zum Beispiel
gemeinsames Einkaufen und Kochen, Besuch eines
Bauernhofs, eigener Obst- und Gemüseanbau usw.?
• Werden Tischgespräche geführt, die die Kinder zum
Erzählen anregen?
• Dürfen sie entscheiden, wann sie satt und fertig sind und
bekommen sie jederzeit die Möglichkeit aufzustehen?
• Werden Assistenzhandlungen verbal sowie sensibel
begleitet und entsprechen sie den Bedürfnissen der
Kinder?
Literatur
Kunz, Alexandra (o. A.): Kinderrechte rund um den
Bildungsort Esstisch. Der Kitaschutzbund. Landesverband
Hessen.
www.verbraucherzentrale-hessen.de/
sites/default/files/2019-10/Kinderrechte%20rund%20um%20den%20Esstisch%20
Kinderwschutzbund%20Hessen%20.pdf.
Vereinte Nationen (1989): Übereinkommen über die
Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im
Wortlaut. Deutsches Kinderhilfswerk.
www.kinderrechte.de/kinderrechte/
un-kinderrechtskonvention-im -wortlaut/#c3234.
Kassandra Ribeiro ist Referentin für
Pädagogik & Qualitätsentwicklung bei
FRÖBEL mit Schwerpunkt Kinderrechte,
Demokratiebildung und Partizipation.
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