univie 3/2022 - Magazine - Page 9
SCHWERPUNKT
In
giftgrünen Gummihandschuhen hantiert Sarah
Al-Ajeel an ihren Bakterienkulturen. Sie hegt und
pflegt ihre „anspruchsvollen Freunde“, wie die junge
Mikrobiologin schmunzelnd erklärt: „Darf ich vorstellen:
Comammox aus der Gruppe der nitrifizierenden Bakterien.
Lieblingsspeise: Ammoniak“. Obgleich kleiner als ein
Mikrometer, erfordern die Organismen die volle Aufmerksamkeit der Doktorandin: „Sie wachsen langsam, und wir
müssen aufpassen, dass sie nicht mit anderen Bakterien
kontaminiert werden“. Klein und nicht gerade pflegeleicht
also, aber mit Potenzial: Die ammoniakfressenden Mikroben könnten in Zukunft eine zentrale
Schlüsselrolle im Kampf gegen die Stickstoffkrise spielen.
FOTOS: SHUTTERSTOCK/LALS STOCK · DERKNOPFDRUECKER.COM
KEIN LEBEN OHNE BAKTERIEN. Mikroorganismen: Um sie dreht sich alles am
Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft (CeMESS) der Uni
Wien, wo Sarah Al-Ajeel im internationalen
Team der Mikrobiologen Holger Daims
und Michael Wagner für ihren PhD forscht.
Genauer gesagt – eigentlich dreht sich die
ganze Welt um diese winzigen Lebewesen,
wir merken es nur meistens nicht (oder
höchstens dann, wenn es sich beispielsweise um Streptokokken in unserem Hals
handelt): Mikroben dirigieren alle großen
Stoffkreisläufe des Planeten und spielen
eine zentrale Rolle für nahezu jede Funktion im Ökosystem.
VOM STICKSTOFFMANGEL ZUM STICKSTOFFÜBERFLUSS. Jedes Lebewesen, auch der Mensch, benötigt
Stickstoff, um zu wachsen. Zwar ist unsere Luft voll davon –
78 Prozent der Atmosphäre besteht aus gasförmigem
Stickstoff – in dieser Form können ihn die meisten Organismen aber nicht verwerten. Sie sind im Laufe der Evolution
erfinderisch geworden, um an das rare Lebenselixier zu
kommen. Mikroorganismen spielen dabei die Hauptrolle,
denn sie wandeln den Stickstoff aus der Luft in die für
Mensch, Tier und Pflanze zugänglichen Formen um.
Im Labor untersucht Sarah Al-Ajeel den „komplizierten Beziehungsstatus“ der Mikroben
in Biofilmen. Die winzigen Organismen sind „slow-growers“ und beizeiten recht
anspruchsvoll – die Experimente erfordern oft Geduld und starke Nerven.
Sie sind überall – mehrere zehntausend
Bakterienarten leben zum Beispiel in nur
einem Gramm Blumenerde, im menschlichen Darm sind es
viele hunderte verschiedene Stämme. „Mikroorganismen
waren die ersten Lebewesen auf dem Planeten, wir alle
tragen ihr Erbe in jeder einzelnen Zelle unseres Körpers.
Ohne sie könnten wir nicht existieren“, bringt Holger Daims
die Bedeutung der kleinen Organismen auf den Punkt.
Sein langjähriger Forschungskollege Michael Wagner –
ebenfalls Gruppenleiter hier am Zentrum und dessen
Gründungsdirektor – nickt zustimmend:
„Wenn man lernt, die Welt aus der mikrobiellen Perspektive
zu betrachten, eröffnet sich so etwas wie ein Paralleluniversum“, beschreibt er schmunzelnd jene Faszination, die er
und Holger Daims seit Jahrzehnten miteinander teilen und
fast ebenso lange gemeinsam „ausleben“.
Indem es dem Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts
gelungen ist, Luftstickstoff verfügbar zu machen, hat er
massiv in den Stickstoffkreislauf eingegriffen: Gemeinsam
mit der Massentierhaltung bringen wir durch die Verwendung von Kunstdünger mittlerweile mehr reaktive Stickstoffverbindungen in die Welt als alle natürlichen Prozesse
in den Meeren oder an Land.
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