NL Magazin 0125-paperturn - Flipbook - Seite 22
MITTENDRIN KOLUMNE
EINEWELTKOMMENTAR
Allein gelassen
Wenn das Leben Herausforderungen stellt, die kaum noch zu bewältigen sind,
dann fällt es nicht leicht, die Balance zu behalten. Und wer allein gelassen ist,
hat mit dem gelassen sein durchaus so seine Probleme. Steve Volke über ein
dramatisches Beispiel aus Äthiopien, das ihm mächtig zugesetzt hat.
Nennen wir sie einfach Rose. Sie lebt
allein mit ihrer Mutter in Addis Abeba
in Äthiopien. Sie sind die einzigen
Überlebenden der gesamten Familie. Rose hat es mit einem Förderprogramm bis an die Universität in
Addis Abeba geschafft und hat einen
Bachelor-Abschluss in Sozialer Arbeit.
Sie könnte ihren Lebensunterhalt
locker bestreiten, wenn es einen
bezahlten Arbeitsplatz für sie gäbe.
Ihre Mutter hat keinen guten Schulabschluss und somit keinen gelernten
Beruf, der Einkommen bringen könnte.
Und so befinden sie sich in einem
täglichen Überlebenskampf, der zum
Ende des vergangenen Jahres dramatische Züge angenommen hat.
Fünfundzwanzig Cent pro Tag
„Steve, ich habe das noch nie gefragt,
aber kannst du uns helfen? Wir wissen nicht mehr, wie wir überleben
sollen“. Diese Nachricht auf meinem
Handy ließ bei mir alle Alarmglocken klingeln. Ich kenne die beiden schon seit vielen Jahren, habe
sie immer mal wieder besucht und
sie punktuell im Auf und Ab ihres
Lebens begleitet. Rose und ihre Mutter sind aber nur zwei von hunderttausenden von Menschen, die zum
Beispiel in Äthiopien kaum in eine
Situation kommen, die sie gelassen
werden lässt. Wir können uns das
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NEUES LEBEN 1–2025
im wohlbehüteten Deutschland kaum
vorstellen, deshalb hier ein kleines
aktuelles Rechenbeispiel von Rose
und ihrer Mutter: Rose hat einen Teilzeitjob, der ihr monatlich 5000 Birr
einbringt, das sind etwa 37,30 Euro
monatlich. Ihre Mutter hat einen
Teilzeitjob, mit dem sie monatlich
3000 Birr verdient, 22,37 Euro. Die
„Ich kenne die
Einwände, die uns
direkt kommen: Kann
man nicht vergleichen.
Andere Welt, und
so weiter. Aber was
wäre, wenn wir solche
Lebensgeschichten
einmal an unser Herz
lassen würden?“
beiden haben also 59,67 Euro pro
Monat, um alle Kosten zu decken
und vom Rest zu leben. Die Miete
für ihre Einraumwohnung in Addis
Abeba kostet monatlich 52,20 Euro.
Wenn sie die bezahlt haben, bleiben
Rose und ihrer Mutter im Monat 7,47
Euro zum Leben. Da der Monat auch
in Äthiopien 30 oder 31 Tage hat,
bedeutet das: 0,25 Euro pro Tag.
Wie soll das gehen?
Als Rose mir diese Rechnung mitteilte,
blieb mir der Atem weg. Wie geht
das? In Äthiopien haben Familien
wie die von Rose keine Krankenversicherungen, Bürgergeld wäre für
sie ein Traum. Aber das Risiko ihres
Lebens liegt zu hundert Prozent auf
ihrer eigenen Seite. Ich denke an die
Work-Life-Balance-Diskussionenin
Deutschland und die letzten Lohnabschlüsse. Wenn wir das mit Rose und
ihrer Mutter vergleichen, haben wir
viele Gründe, gelassen zu bleiben
und mit einem guten Gefühl in die
Zukunft zu blicken. Dass wir das oft
nicht tun, empfinde ich immer mehr
als Schande, eher noch möchte ich
es Sünde nennen! Ich kenne die Einwände, die uns direkt kommen: Kann
man nicht vergleichen. Andere Welt,
und so weiter. Aber was wäre, wenn
wir solche Lebensgeschichten einmal
an unser Herz lassen würden? Vielleicht führt es dazu, dass wir unsere
Komfortzone verlassen, um denen
zu helfen, für die Gelassenheit nicht
zum alltäglichen Vokabular gehört.
Steve Volke lebt in Marburg. Er ist
freier Journalist, Fotograf und leitet
im Hauptberuf den deutschen Zweig
des internationalen Kinderhilfswerks
„Compassion“. Mehr von ihm auf:
stevevolke-blog.de