NL Magazin 0125-paperturn - Flipbook - Seite 27
die Wahrheit haben. Wir wissen nicht alles. Wir verstehen
mich nicht Christus zuneigen, und mich zugleich vom anderen
nicht alles. Und wir liegen ehrlich gesagt doch ziemlich oft
abneigen, der sich auch Christus zuwendet. Ich kann mich
auch falsch. Eine Haltung der Demut befähigt uns, o昀昀en und
nur abneigen, wenn ich mich auch von Christus abwende.“
lernbereit in einen Dialog einzutreten. Gleichzeitig brauchen
Im Licht von Christus werden wir daran erinnert, dass auch
wir aber auch Überzeugung, weil Gott sich uns o昀昀enbart hat.
unser „Gegner“ ein Ebenbild Gottes ist, dem wir mit Würde
In unserer menschlichen Begrenztheit ist es uns zwar nicht
und Respekt begegnen sollen und der in seiner Ganzheit-
möglich absolutes Wissen zu erlangen, wohl aber hinrei-
lichkeit, seiner Biogra昀椀e und seinen Gaben wahrgenommen
chendes Wissen. Nur weil wir nicht alles wissen können, heißt
werden will.
dies keineswegs, dass wir gar nichts wissen können. Gott hat
sich uns vorgestellt – in seinem Wort und ganz besonders in
Wenn wir Christus als Zentrum haben, lernen wir, „theologisch
seinem Sohn Jesus Christus. Und genau deswegen dürfen wir
gastfreundlich“ zu sein. Weil wir in Jesus selbst Gastfreund-
überzeugt sein von dem, was wir glauben, und sind eingela-
schaft erfahren haben, können wir auch Andersdenkende will-
den, das zu bewahren, was kostbar ist. Wir brauchen beides:
kommen heißen. Diese Gastfreundschaft geschieht in einem
Demut ohne Überzeugung führt zu Beliebigkeit und Faul-
gesunden Verhältnis von Abgrenzung (nicht: Ausgrenzung!)
heit. Überzeugung ohne Demut führt zu Dogmatismus und
und Umarmung. Wir nehmen unsere Unterschiedlichkeit wahr
Stolz. Wenn Demut und Überzeugung aber in einer konstruk-
und setzen dem anderen klare Grenzen. Und gleichzeitig
tiven Spannung zusammenkommen, führen sie zu Wachstum
nehmen wir unsere Ähnlichkeit wahr und treten mit dem
und Erkenntnis. Und sie helfen uns, insgesamt gelassener mit
anderen in eine von Gottes Liebe geprägte Beziehung. Ganz
Spannungen, Komplexität und o昀昀enen Fragen umzugehen,
praktisch heißt das: Wir glauben einander den Glauben. Wir
erzwingen keine Einheitlichkeit, sondern
anstatt sich von Glaubenszweifeln überkommen oder von persönlichen Ängsten
bestimmen zu lassen.
Christuszentriert ringen
Zweitens müssen wir lernen, in der
Gemeinschaft und christuszentriert, um
diese Themen zu ringen. Das heißt zum
einen: Wir brauchen einander. Gott hat uns
bewusst in eine Gemeinschaft gestellt. Als
Auslegungs- und Lerngemeinschaft ringen wir gemeinsam um die Wahrheit und
brauchen dabei auch die unterschiedlichen Stimmen. In der Gemeinschaft 昀椀nde
„Wir müssen die
Gewohnheiten unseres
Verstandes schärfen
und lernen, unsere
Gedanken, Gefühle
und Verhaltensweisen
in einer Weise zu
kultivieren, die dem
Reich Gottes dienen.“
ich mit meinen blinden Flecken, meinen
streben danach, die von Christus gestiftete
Einheit sichtbar zu machen. Und wir begegnen einander in Liebe und Wahrheit.
Tugendhaft diskutieren
Drittens, wir brauchen eine intellektuell
tugendhafte Diskussionskultur. Wir haben
alle etwas zu verlieren, wenn wir nicht
miteinander reden. Und wir haben alle
etwas zu verlieren, wenn wir unangemessen miteinander reden. Deswegen ist es in
unseren Gemeinden wichtig, die Kunst der
Meinungsverschiedenheit einzuüben. Wir
müssen die Gewohnheiten unseres Ver-
lagerverursachenden Vorurteilen und meinen fehlgeleiteten
standes schärfen und lernen, unsere Gedanken, Gefühle und
Motiven Korrektur. Mein geistlicher und theologischer Hori-
Verhaltensweisen in einer Weise zu kultivieren, die dem Reich
zont wird erweitert und dadurch wird meine Anbetung vertieft.
Gottes dienen. Tugenden wie Mut, Sorgfalt, Beharrlich-
Deswegen stelle ich mich bewusst in diese Gemeinschaft, in
keit, Unvoreingenommenheit, Aufrichtigkeit und Neugier
die von Christus gestiftete Einheit des Leibes. Das heißt zum
müssen unser Streben nach Wahrheit und unser Mitein-
anderen: Ohne die gemeinsame und ganzheitliche Ausrichtung
ander im Ringen um die Wahrheit prägen. Für das konkrete
auf Jesus wird es uns nicht gelingen, Einheit trotz Vielfalt zu
Gespräch mit meinem Gegenüber bedeutet das folgendes:
leben. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen.
Ich will lernen, aktiv und ganzheitlich zuzuhören – „zwischen den Zeilen“ zu hören und großzügig zu sein; ich will
Wenn wir Christus als Zentrum haben, lernen wir, uns auf
lernen, verantwortungsvoll mit dem Gesagten umzugehen
das Wesentliche zu konzentrieren. Statt unsere Energie in
– die Positionen in ihrer Gesamtheit und in ihrer stärksten
„Nebensächlichkeiten“ zu stecken, lernen wir, wofür es sich zu
Form zu besprechen; ich will lernen, meine eigenen Motive
kämpfen lohnt. Wir lernen, in unserer Berufung aufzublühen
zu hinterfragen und Gott in den Mittelpunkt zu stellen; und
und nach den Prioritäten von Gottes Reich zu leben.
ich will lernen, miteinander und füreinander zu beten – uns
gemeinsam auf Gott auszurichten und für den anderen vor
Wenn wir Christus als Zentrum haben, lernen wir, den anderen
Gott einzutreten. Denn um die Gesprächskultur zu verän-
im Lichte Christi zu sehen. Ulrich Eggers hat dazu beim EAD-
dern, beginne ich bei mir selbst.
Symposium 2022 einen spannenden Gedanken von Walter Dürr
über das Mosaik „Christ Pantokrator“ aus der Hagia Sophia
mitgebracht: „Links Maria, die sich Christus zuneigt, rechts
Johannes der Täufer – auch er neigt sich Christus zu. Im HinNeigen zu Christus zeigt sich ein wichtiger Gedanke … : Wenn
Christus die Mitte ist, können wir unterschiedliche Positionen
haben. Denn in dem Maße, wie wir uns Christus zuneigen, neigen wir uns auch einander zu – es geht nicht anders. Ich kann
Eva Dittmann, PhD (Wheaton College), ist Affiliate
Professorin der Kairos University und Dozentin für
Altes und Neues Testament am Theologischen Seminar
Rheinland, liebt Herausforderungen und ist gerne mit
ihrem Hund Pablo unterwegs.
27