NL Magazin 0125-paperturn - Flipbook - Seite 39
Rassismus. Aber Hand aufs Herz: Wie oft schaue ich weg
oder halte den Mund, wenn ich abfällige Bemerkungen
über Menschen wahrnehme?
patriarchalen Strukturen“ in unsere ach so unschuldige
Gesellschaft „importiert“ haben. Die Kinder eines weißen
Kollegen, der mit einer schwarzen Südafrikanerin verheiratet ist, können Geschichten über Geschichten von
Schweigen ist keine Tugend
abfälligen Bemerkungen erzählen, denen sie täglich auf
Wegschauen dagegen ist Sünde: Immer. Ob in der Sauna den Straßen oder in den U-Bahnen Berlins ausgesetzt sind.
oder im Alltag, ob es Schwarze trifft, oder Frauen, oder Die jüdische Studierendenunion in Deutschland berichtet
Menschen mit Behinderungen, oder, oder, oder. „Was ihr von etlichen Angriffen auf Studierende, die an der Unieinem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr versität eine Kippa oder einen Davidstern getragen hatmir nicht getan“, sagt Jesus ohne Wenn und Aber (Mat- ten. Und wieviel mehr ließe sich aufzählen. Mag sein,
thäus 25,45). Es gibt ein berühmtes Zitat von Martin Nie- dass wir das Rad der Zeit mit ihren Fake News und digimöller über die Zeit der Nationalsozialisten. Daran muss talen Hasskommentaren nicht zurückdrehen können.
ich jetzt denken: „Als die Nazis die Kommunisten hol- Wobei – warum eigentlich nicht? Was wir aber definitiv
ten, habe ich geschwiegen; ich
tun können, jeder einzelne Bürger
war ja kein Kommunist. Als sie
und jede Bürgerin, jeder, der von
die Gewerkschaftler holten, habe
sich sagt, dass er Jesus nachfolgt:
„Mag sein, dass wir das
ich geschwiegen, ich war ja kein
Wir können hinsehen, statt wegzuRad der Zeit mit ihren
Gewerkschaftler. Als sie die Juden
sehen, wir können den Mund auf
holten, habe ich geschwiegen, ich
machen, wenn wir Vorurteile und
Fake News und digitalen
war ja kein Jude. Als sie mich holBeleidigungen hören.
Hasskommentaren nicht
ten, gab es keinen mehr, der prozurückdrehen können. Wobei
testieren konnte“. Der Vergleich mit
Um konkret zu werden: Wie hätte
dem dunkelsten Kapitel der deutdas in der Sauna in Helsinki aus– warum eigentlich nicht?“
schen Geschichte mag etwas weit
sehen können? Ich hätte die beiden mit dem, was ich gehört habe,
hergeholt sein. Und doch: Hatte
es vor 1933 nicht ähnlich angefangen? Unscheinbar, mit konfrontieren können. Hätte das geholfen? Wer weiß,
abfälligen Bemerkungen, mit Zuschreibungen und Abwer- vielleicht nicht, aber vielleicht schon. Doch noch besser:
tungen gegen bestimmte Gruppen von Menschen? Und Ich hätte den Finnen ansprechen können. Wie es komme,
dann, als die Menschenverächter an der Macht waren, dass in Finnland so wenig Kriminalität herrsche. Und dann
fielen schließlich die äußeren Barrieren, und der Hass und hätte sich möglicherweise ein konstruktives Gespräch
die Gewalt wurden mehr als nur salonfähig, ja unter den entwickelt und einige Vorurteile wären entlarvt worden.
Nazis quasi zur Bürgerpflicht, um die „wahren Deutschen“ Hätte. Ich habe geschwiegen, und mich geärgert. Und
zu schützen?
mir fest vorgenommen, nächstes Mal zu reagieren. Denn
das kommt bestimmt – wohl eher nicht in Helsinki, aber
Wir können hinschauen
garantiert irgendwo bei mir zuhause um die Ecke.
Man muss nicht mit dem Finger auf die weißen Amerikaner zeigen, um die Veränderungen in der Kultur
und im gesellschaftlichen Miteinander unserer Zeit zu
Uwe Heimowski ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Der
bemerken. Das geschieht auch bei uns vor der Haustür.
Diplomtheologe war Pastor der EFG Gera, Dozent und Referent
für Menschenrechte bei Frank Heinrich, MdB, sowie politischer
Die politischen Debatten verschärfen sich. Die häusliBeauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz. Er leitet seit
che Gewalt gegen Frauen steigt Jahr für Jahr – und nein,
Mai 2023 Tearfund Deutschland. heimowski.net; tearfund.de
daran sind nicht (allein) die Fremden Schuld, die „ihre
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