NL Magazin 0125-paperturn - Flipbook - Seite 45
Ich liebte meine hessische Kleinstadt.
meine Frau konnte ich nicht mal einen
Schutzraum zu erreichen, kauerten wir
Nach vielen Jahren voller Herausforde-
Handy vertrag abschließen. Zudem
fortan bei jedem Alarm unter unserer
rungen war ich dort endlich angekom-
hatte ich nicht nur eine Frau geheiratet,
Treppe. Die Angst in den Augen meiner
men. Meine Familie und meine besten
sondern auch eine Familie – von null auf
Familie werde ich nicht vergessen –
Freunde lebten dort, ich hatte eine tolle
hundert Vater. Die Kinder sprachen nur
genauso wenig wie die existenzielle
Arbeit, die mich ausfüllte, setzte mich
schlecht Deutsch, und ich weder Heb-
Angst, die ich um sie hatte. Und das
gerne in meiner Heimatgemeinde und
räisch noch Russisch, das ebenfalls in
Einzige, was wirklich half, war, im Her-
im Ort bei verschiedenen Vereinen ein.
unserer Familie gesprochen wird. Da war
zen zu Gott zu schreien: „Du musst uns
Ich besaß ein Fachwerkhaus mit Gar-
ich nun: irgendwie verloren, komplett
beschützen!“ Immer wieder und wieder.
ten mitten in der Altstadt – was wollte
überfordert, und das nicht nur Wochen
Ja, es gab viele Momente, in denen wir
ich mehr?
oder Monate, sondern über Jahre. Es
als Ehepaar befürchteten, dass es kei-
fühlte sich an, als wäre ich mit Vollgas
nen Morgen mehr geben könnte. Diese
Ich heirate nach Israel
auf ein Abstellgleis gerast. Meine jähr-
Erkenntnis führte bei uns zu der Ent-
Eines Tages meldete sich dann eine enge
lichen Visa-Termine, bei denen meine
scheidung, den Augenblick im Fokus
Freundin bei mir: Ihre Schwester sei im
Frau Alexandra und ich befragt wurden,
zu behalten. Ich kann das Morgen
Land, und ob ich nicht mit ihr etwas
verschlimmerten meinen Zustand. Sie
nicht beeinflussen, nicht die äußeren
unternehmen könne, damit sie mal
gaben mir jedes Mal das Gefühl, nicht
Umstände, nicht die Situation, aber ich
rauskommt. Sie war für einige Zeit mit
dazuzugehören, irgendwie nur geduldet
kann das Hier und Jetzt gestalten, mit
ihren drei Kindern aus Israel zu Besuch.
zu sein. Israel ist kein typisches Einwan-
dem, was Gott mir gegeben hat. Und
Ich erklärte mich bereit und nahm sie
derungsland, und ich durfte nur bleiben,
dazu gehört die Zeit mit der Familie.
mit auf eine Wanderung – bei rund
weil meine Frau dort schon seit mehr
So gingen wir alle zusammen auf den
null Grad, mit Schneeregen, 16 Kilome-
als 20 Jahren lebte. Generell herrscht
Sportplatz, als die meisten Israelis vor
ter durch das hessische Mittelgebirge.
im Nahen Osten eine härtere Gangart.
den Bildschirmen hingen. Bevor der
Rückblickend gebe ich zu: Das war recht
Aufgrund der verschiedenen Kulturen,
Iran uns angriff, machten wir einen
rigoros. Schließlich kam sie aus einem
Religionen, Kriege und Krisen gibt es
Spiele- und Filmabend. Und wir sagten
Land, in dem es selbst im Winter meis-
wenig Raum für persönliche Be昀椀ndlich-
uns als Ehepaar: Wenn das unser Ende
tens warm ist. Und dann wurde daraus
keiten. Ich versuchte, das für mich zu
ist, dann ist es ein gutes Ende.
eine große Liebesgeschichte und wir
ordnen. Aber ich scheiterte allzu oft an
wollten heiraten. Sie war bereit, mit den
meinen Vorstellungen, meinen Erwar-
Meine Verantwortung
Kids nach Deutschland zu kommen,
tungen und meinem viel zu engen Zeit-
Als Ehemann und Vater will ich mich
aber das ging aus verschiedenen Grün-
plan. Eine Tugend beherrschte ich so gar
meinen Nächsten zuzuwenden, mei-
den nicht. Und so standen wir vor einer
nicht: Gelassenheit.
ner Frau und unseren Kindern. Ihnen
gegenüber trage ich Verantwortung. In
Entscheidung: Entweder ich lasse alles,
was ich Heimat nannte, hinter mir und
ziehe nach Israel, oder es gäbe keine
gemeinsame Zukunft. Ich kannte Israel
nur von den typischen Reisen, die man
so unternehmen kann, und ich bin
dankbar, dass meine Frau mir ordentlich den Kopf gewaschen hat, bevor ich
zu ihr zog. Ja, das Leben in Israel spielt
tatsächlich in einer ganz anderen Liga
als das im hessischen Kleinstadt-Idyll.
„Als junger Christ habe
ich mich damit zufriedengegeben, meine Sorgen als
Vorsorge auszugeben. Aber
wenn ich ehrlich bin, war
es eigentlich mangelndes
Vertrauen – und Misstrauen
gegenüber Gott.“
aller Deutlichkeit hat mir Gott über die
Jahre gezeigt, dass es Dinge gibt, die
ich nicht in der Hand habe. Ich kann sie
nicht ändern, nicht beein昀氀ussen. Aber
ich habe Ein昀氀uss darauf, welche Gedanken ich mir darüber mache. Als junger
Christ habe ich mich damit zufriedengegeben, meine Sorgen als Vorsorge
auszugeben. Aber wenn ich ehrlich bin,
war es eigentlich mangelndes Vertrauen
– und Misstrauen gegenüber Gott.
Gott hat im Verborgenen intensiv an
Komplett überfordert
Mittlerweile sind fast neun Jahre ver-
Plötzlich im Krieg
mir gearbeitet. Nicht aufgrund meiner
gangen, und ich kann sagen: Es ist ein
Mittlerweile sind Jahre vergangen, und
Leistung, sondern weil ich grundsätz-
Leben mit Höhen – und wahrlich gro-
2023 war eines der schwierigsten für
lich o昀昀en war, ihm zu folgen, auch wenn
ßen Tiefen. Gut deutsch konditioniert
uns. Der 7. Oktober – und alles, was
ich seine Wege nicht verstand.
war ich nach Israel gekommen, und es
danach kam – wurde zur Bewährungs-
verging kaum ein Tag, an dem ich nicht
probe für uns als Familie. Als der erste
aneckte und in ein Fettnäpfchen trat.
Luftalarm losging, waren die Bilder vom
Wir leben in einer Gegend, in der es
Überfall der Hamas noch ganz frisch.
kaum neue Einwanderer gibt – schon
Wir leben zwar im Norden, aber die erste
gar nicht deutsche Nichtjuden. Daheim
Warnung, die mit dem Alarm einherging,
war ich gewohnt, dass man mich kannte,
lautete: „Warnung vor Drohnen, Rake-
dass ich mit meiner o昀昀enen Art recht
ten und In昀椀ltration von Terroristen.“
schnell Anschluss fand. Plötzlich war
Weil wir keinen eigenen Bunker haben
alles anders: Ich verstand die kultu-
und die Zeit mit Kleinkindern nicht aus-
rellen Begebenheiten nicht, und ohne
reichte, um den nächsten ö昀昀entlichen
Benjamin Funk, 43, lebt mit seiner
Frau Alexandra und sechs Kindern
als deutsch-israelische Familie
in einem jüdischen Moshav in
Galiläa. Nach seiner theologischen
Ausbildung am Theologischen
Seminar Rheinland gründete er
eine Agentur für Kommunikation
und ist bis heute als Content
Creator und Dozent tätig.
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