univie 3/2022 - Magazine - Page 24
ALUMNIRÄTSEL
Der „Architekt“,
der keiner war
FUNDAMENTAL. Dieser Absolvent der
Universität Wien war im 20. Jahrhundert
der bedeutendste österreichische Vertreter
seines Fachs, das weit über die akademische
Wissenschaft hinaus Geltung hat.
TEXT: KLAUS TASCHWER
Im selben Jahr wurde er auch beauftragt,
sein Hauptwerk zu planen, das sehr verschiedenen und zum Teil auch widersprüchlichen Ansprüchen gerecht werden musste. Der konkrete Auftraggeber
für dieses Gebäudes war übrigens ein
anderer bedeutsamer Absolvent der Universität Wien, der ziemlich genau zehn
Jahre vor dem gesuchten Alumnus an der
Alma mater Rudolphina das gleiche Fach
erfolgreich absolviert hatte.
Der Architekt, der keiner war, studierte
um die vorletzte Jahrhundertwende an
der Universität Wien und habilitierte sich
im Jahr 1911. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann er neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität in seiner Wohnung in der Josefstadt Privatseminare
abzuhalten, die zur Bildung einer Art von
Schule führten, die weit über Österreich
hinauswirkte. Während des Ersten Weltkriegs war der Alumnus unter anderem
in der Heeresverwaltung tätig, ehe er
1919 ordentlicher Professor wurde.
SCHÖN UND ELEGANT. Für das Gebäude,
das am 1. Oktober 1920 dann in Betrieb
genommen wurde, existieren zumindest
sechs Entwürfe, die in ihrer Grundstruktur aber alle gleich waren und sich nur in
Details unterschieden. Von der Qualität
des Baus zeugt auch, dass es seitdem –
mit kurzen Unterbrechungen und kleineren Renovierungen – bis heute seinen
Zweck hervorragend erfüllt. Kürzlich
erst wurde dieser mittlerweile 102 Jahre
alte Bau von einem ehemaligen Professor
der Uni Wien als „grandiose Kulturleis-
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tung“ gefeiert. Dieser Ex-Professor hat
den Bau früher schon als „schön und elegant“ gewürdigt.
Aufgrund seines außerordentlichen Rufs
hatte der gesuchte Alumnus eine Vielzahl von Schülerinnen und Schülern aus
dem In- und Ausland. Einer der bedeutendsten war ein Fachkollege, der nach
dem Ersten Weltkrieg bei ihm an der Uni
Wien studierte. Dieser Schüler sollte
1945 eine wesentliche Rolle beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher spielen und das Konzept des
„Verbrechens gegen die Menschlichkeit“
entwickeln.
Es waren nicht zuletzt politische Gründe,
die den Alumnus veranlassten, seiner
Alma mater und seiner Heimatstadt den
Rücken zu kehren und schließlich Europa
ganz zu verlassen. Sein Lebensende verbrachte er in den USA, anerkannt als
einer der weltweit bedeutendsten Vertreter seines Fachs im 20. Jahrhundert. •
FOTOS: ANNE FEDER LEE, HONOLULU · SHUTTERSTOCK/DINGA
D
er Alumnus der Universität
Wien, den wir diesmal suchen,
wird immer wieder gerne und
zu Recht als „Architekt“ bezeichnet,
allerdings ohne tatsächlich einer gewesen
zu sein. Das „Gebäude“, für das dieser
Absolvent und auch Professor der Uni
Wien mitverantwortlich zeichnete, ist das
mit Abstand wichtigste seiner Art in
Österreich. Es kommt freilich ganz ohne
Ziegel, Mörtel, Beton oder Stahl aus.